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Mittwoch, 28. Februar 2024

Taurus-Lieferungen als Schlüsselfrage der deutschen Subjektivität

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz erklärt öffentlich, dass er die Lieferung von Taurus-Langstreckenraketen an das Kiewer Regime kategorisch ablehnt. Was sind die Eigenschaften dieser Waffe? Warum beharren einige andere deutsche Politiker darauf, sie an Kiew zu liefern? Und wie lange wird Scholz diesem Druck standhalten können? Ein russischer Experte versucht, diese Fragen in einem in der Zeitung Wsgljad veröffentlichten Artikel zu beantworten:

Die Ukraine wird keine Taurus-Marschflugkörper aus deutscher Produktion erhalten. "Wir dürfen an keiner Stelle und an keinem Ort mit den Zielen, die dieses System erreicht, verknüpft sein. Ich wundere mich, dass es einige gar nicht bewegt, dass sie nicht einmal darüber nachdenken, ob es gewissermaßen zu einer Kriegsbeteiligung kommen kann durch das, was wir tun", sagte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz.

Ihm zufolge sollten die Raketen von Bundeswehrsoldaten gewartet und programmiert werden. Und auf ukrainischem Territorium könnten deutsche Soldaten getötet oder in Kampfhandlungen gegen Russland verwickelt werden. "Es ist ganz klar, dass es keine deutschen Soldaten auf ukrainischem Grund geben wird. Und dafür stehe ich auch, dass das so ist: dass es keine Verwicklung unseres Landes und der militärischen Strukturen unseres Landes in diesen Krieg gibt", sagte Scholz.

Er machte deutlich, dass er nicht den Weg von Paris und London (die der Ukraine bereits ihre SCALP- und Stormshadow-Raketen und damit ihre Spezialisten geliefert haben) gehen werde. "Was an Zielsteuerung und an Begleitung der Zielsteuerung vonseiten der Briten und Franzosen gemacht wird, kann in Deutschland nicht gemacht werden", resümierte der Kanzler. Mit anderen Worten: Scholz erkennt öffentlich an, dass die Lieferung dieser Raketen für Russland eine rote Linie darstellt, die er nicht zu überschreiten gedenkt.

Die Taurus-Raketen haben eine Reichweite von 500 Kilometern, und das Kiewer Regime kann sie nicht nur zum Angriff auf die Krim einsetzen. Wir erinnern daran, dass Moskau 450 Kilometer vom derzeitigen Verlauf der russisch-ukrainischen Grenze entfernt ist. Und wenn Kiew mit diesen Raketen, die von deutschen Soldaten vor Ort gewartet werden, zuschlägt, könnte Moskau dies in der Tat als Casus Belli betrachten (selbst wenn man die historischen Parallelen außer Acht lässt). Ein Vorwand für einen Krieg, der für Deutschland der letzte sein könnte.

Die Frage ist, wie stichhaltig ist diese Position wirklich? Scholz selbst soll in Gesprächen mit seinen Parteifreunden gesagt haben, dass, solange er Kanzler sei, die Lieferung von Taurus-Raketen an die Ukraine nicht in Frage komme. Doch wie lange kann er seine Zurückhaltung aufrechterhalten? Das hängt vor allem von einer Reihe innenpolitischer Umstände ab.

Das empfindliche Gleichgewicht der deutschen "Ampel"

Bundeskanzler Scholz regiert Deutschland bekanntlich nicht im Alleingang, sondern im Rahmen der so genannten Ampelkoalition - einem Bündnis aus den "roten" Sozialdemokraten (SPD), den "gelben" Freidemokraten und den "grünen" Grünen. Scholz stützt sich auch auf die öffentliche Meinung in der Raketenfrage. 56 Prozent der Deutschen sind gegen die Lieferung von Taurus-Raketen, nur 35 Prozent befürworten die Idee. Schlüsselt man die Umfrage jedoch nach Parteisegmenten auf, ergibt sich ein etwas anderes Bild. Bei den SPD-Wählern überwiegen die Gegner der Lieferungen (41% dafür, 46% dagegen).

"Weil die Erhöhung der Militärausgaben ihren Geldbeutel belastet, weil sie den Vereinigten Staaten kritisch gegenüberstehen, weil sie eine direkte Beteiligung Deutschlands am Krieg fürchten, weil die Partei seit Jahren für eine zumindest minimale Zusammenarbeit mit Russland eintritt und weil sie die neonazistische Regierung in der Ukraine nicht mag", erklärt Wadim Truchatschew, außerordentlicher Professor an der Russischen Staatlichen Universität für Geisteswissenschaften. Die Wähler der Partner der rot-gelb-grünen Ampel-Koalition sind mit überwältigender Mehrheit dafür (48% Zustimmung gegenüber 46% für die Freien Demokraten und 52% gegenüber 34% für die Grünen).

Eigentlich kritisieren diese Partner Scholz bereits. "Deutsche Soldaten werden für Taurus NICHT auf ukrainischem Boden benötigt. Die Behauptung des Bundeskanzlers ist falsch", argumentiert Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der FDP und Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag. Die Grünen sind etwas weniger verbissen, aber immer noch dagegen. "Niemand, der Taurus für die Ukraine fordert, will, dass Deutschland zur Kriegspartei wird, aber für den Frieden in Europa und darüber hinaus ist es essenziell, dass die Ukraine diesen Verteidigungskampf gewinnt ", sagte Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Erkardt.

Auch die führende Oppositionspartei CDU/CSU ist anderer Meinung als Scholz. Ihr Vertreter, der ehemalige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, Norbert Röttgen, sagte, die Raketenlieferungen seien "strategisch von Bedeutung, weil sie den Ukrainern erlauben, Stellungen in den besetzten Gebieten zu zerstören, ohne selbst nah an die Frontlinie heranzurücken. Taurus würde so Soldaten und Zivilisten schützen!"

Tatsächlich ist die einzige Partei, die Scholz' Ablehnung unterstützt hat, die Alternative für Deutschland, deren Wähler nur zu 13 Prozent für die Lieferung von Raketen sind. Aber Scholz interessiert sich nicht besonders für deren Meinung.

Damit stehen der Bundeskanzler und seine Sozialdemokraten politisch allein da. Man könnte meinen, dass die Freien Demokraten und die Grünen ihn einfach zwingen könnten, indem sie mit dem Bruch der Koalition drohen. Doch von dieser Seite droht Scholz keine Gefahr - alle drei Parteien sitzen im selben Boot, und wenn es untergeht, finden sie keinen Ersatz.

"Keine der Parteien, die an dieser Koalition beteiligt sind, hat bei der nächsten Wahl eine Chance, den früheren Erfolg zu wiederholen. Daher schätzen sie die Tatsache, dass sie die Koalition vorerst halten können. Daher werden etwaige Widersprüche zwischen ihnen beiseite geschoben", erklärt Dmitrij Ofitserov-Belskij, ein leitender Forscher am Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften.

In diesem Sinne ist das innenpolitische Gleichgewicht in Deutschland in Bezug auf die Lieferung von Taurus-Raketen paradox. Die Koalitionspartner kritisieren Scholz gnadenlos, nennen ihn einen Lügner. Und die Presse lacht über den ganzen Schlamassel. "Die deutsche Taurus-Inszenierung ist wieder ein Stück aus dem Repertoire der Berliner Ampelregierung. Sie trägt Züge einer Tragikomödie, driftet nun aber in peinlich-groteskes Polittheater ab", schreibt eine schweizerische Zeitung. Doch die Koalition ist nicht in Gefahr.

Die Frage der Subjektivität

Allerdings können Entscheidungen in Deutschland von den US-Amerikanern beeinflusst werden. "Es gibt die Meinung, dass Scholz, als er Bürgermeister von Hamburg war, nicht in allem sauber war und zum Objekt der Erpressung wurde. Deshalb erfüllt er jeden Befehl aus den USA, wenn auch ohne Begeisterung", sagt Dmitrij Ofitserov-Belskij.

Scholz' Ruf ist so schlecht, dass man in Washington kaum bereit ist, seine Meinung zu berücksichtigen. "Diese Politiker sind zu schwach und zu unprofessionell, um für etwas einzustehen. Worüber soll man reden, wenn Scholz sowohl Rutte als auch Macron an Einfluss deutlich unterlegen ist. Er ist bestenfalls die Nummer drei der EU-Politiker, vielleicht sogar die Nummer vier: Orban steht auch höher", meint Wadim Truchatschew.

Bislang gibt es aus Washington keine Anweisung an Berlin, Taurus an die Ukraine zu liefern - aber offenbar nur, weil es nicht in die amerikanische (und auch nicht in die deutsche) Strategie passt. "Der Westen (und das sagen dort viele) liefert der Ukraine so viel Hilfe und Waffen, dass sie nicht verliert, aber auch nicht gewinnt. Eine Art Position der zurückhaltenden Hilfe. Sie wird von den Deutschen und den Amerikanern dominiert", erklärt Dmitrij Ofitserow-Belskij.

Es ist jedoch möglich, dass das Kiewer Regime, wenn die russische Armee weiter vorrückt, mehr von verschiedenen Waffen benötigt, darunter auch deutsche Raketen. "Wenn sich die Frontlinie nach Westen verschiebt, wird die Wahrscheinlichkeit von Taurus-Raketenlieferungen steigen", ist sich Wadim Truchatschow sicher.

Und das nicht nur, weil die US-Amerikaner das verlangen werden. Bundeskanzler Scholz will nicht, dass Deutschland in den Krieg hineingezogen wird - aber gleichzeitig will er auch keinen russischen Sieg in der Ukraine. Im Falle eines solchen Sieges würden Deutschland und Europa insgesamt sogar die Chance auf Souveränität verlieren, so eine Reihe von Experten in Deutschland.

"Sie sind sich darüber im Klaren, dass, wenn es an der Zeit ist, den Konflikt zu beenden, die Russen und die US-Amerikaner am Verhandlungstisch sitzen und die europäische Sicherheit ohne die Europäer aushandeln werden. So wie es zum Beispiel 1945 in Jalta war, oder 1989 in Malta, oder wie Sergej Lawrow und Anthony Blinken in Genf verhandelt haben. Und die einzige Möglichkeit, einen erneuten Verlust der europäischen Subjektivität zu vermeiden, besteht darin, einen der externen Akteure auszuschalten. Daher wird die strategische Niederlage Russlands in Europa als ein wichtiges Element für die Erlangung dieser Subjektivität Europas gesehen - einer Gemeinschaft von Ländern mit einer Bevölkerung von mehr als einer halben Milliarde Menschen", sagt Dmitry Ofitserow-Belskij.

In Russland - und bei einer Reihe von deutschen Experten - wird die Situation genau umgekehrt gesehen. Ein russischer Sieg wird es Deutschland und anderen ermöglichen, ein Stück Souveränität gegenüber Washington zu gewinnen. Er wird es ermöglichen, ein System der kollektiven Sicherheit in Europa zu schaffen.

Allerdings haben die Europäer und wir oft ein unterschiedliches Verständnis von Souveränität. Wir verstehen sie als unser Recht, über unser eigenes Schicksal zu entscheiden, während sie für Europa nur das Recht bedeutet, in Washington gehört und berücksichtigt zu werden. Und um dieses Recht zu erlangen, kann sich Deutschland durchaus dazu entschließen, Raketen zu liefern, so wie es sich bereits dazu entschlossen hat, Panzer mit Kreuzen auf den Türmen nach Russland zu schicken.

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