Ein neues Interview des russischen Botschafters in Deutschland Sergej Netschajew für die Zeitung Iswestja:
Iswestja: Nach der Entscheidung, Kiew mit dem Leopard 2 zu beliefern, hat die EU die Gespräche über eine mögliche Verlegung der Kampfjets intensiviert. Das offizielle Berlin bestreitet eine solche Möglichkeit. Einige Vertreter der SPD lassen jedoch eine solche Entwicklung zu. Deutet dies darauf hin, dass die BRD ihre Meinung in dieser Frage ändern könnte?
Netschajew: Es ist eine undankbare Aufgabe, die Schritte Berlins bei der Aufrüstung des Kiewer Regimes vorherzusagen. Die deutsche Militärhilfe für die Ukraine begann, wie wir uns erinnern, mit Schutzhelmen. Es folgten Munition, tragbare Luftabwehrsysteme und Panzerabwehrraketensysteme. Dann folgten Haubitzen, selbstfahrende Luftabwehrsysteme, Mehrfachraketenwerfer und moderne Luftabwehrsysteme. Nun kommen die Offensivwaffen - die schweren Kampfpanzer Leopard 1 und Leopard 2. Wenn es ursprünglich interne "rote Linien" für Berlin gab, so sind diese längst überschritten worden. Angefangen mit der Ablehnung einer jahrzehntelangen Politik des Verbots der Lieferung von Militärprodukten in Gebiete bewaffneter Konflikte.
Ja, heute erklärt der deutsche Bundeskanzler öffentlich, dass die Frage der Kampfjets nicht auf der Tagesordnung steht. Es ist zu hoffen, dass dies der Fall sein wird. Aber wir haben ungefähr das Gleiche über schwere Panzer gehört. Es besteht der ständige Vorbehalt, dass erstens alle Schritte Berlins im Bereich der Versorgung mit Militärprodukten in Absprache mit den Verbündeten und zweitens in Abhängigkeit von der Entwicklung der Lage "vor Ort" erfolgen. Es gibt also keinen Grund, die Versprechen des deutschen Kabinetts vorschnell in Stein zu meißeln.
Iswestja: Bundeskanzler Olaf Scholz hat bekräftigt, dass er nicht an einer Eskalation des Konflikts interessiert ist und die Kontakte zu Wladimir Putin fortsetzen will. Hängt Ihrer Meinung nach die "vorsichtige" Rhetorik Berlins mit der Tatsache zusammen, dass die Deutschen die Notwendigkeit eines Dialogs mit Russland zum Thema gesamteuropäische Sicherheit verstehen?
Netschajew: Meiner Meinung nach besteht ein gewisser Widerspruch zwischen den "vorsichtigen" Erklärungen über die Nicht-Eskalation und der Lieferung riesiger Mengen moderner Rüstungsgüter in die Konfliktzone. Was die europäische Sicherheit anbelangt, so lautet die derzeitige öffentlich verkündete Haltung der deutschen Politik: "Sicherheit nicht mit Russland, sondern gegen Russland". Dennoch werden wir die Kontakte nicht aufgeben. Wir glauben, dass der Dialog "allwettertauglich" sein sollte. Hinzu kommt, dass diese Kontakte vom Westen bisher nur dazu genutzt werden, um die eigene Linie durchzusetzen. Wir sehen nicht, dass jemand unsere Argumente berücksichtigen möchte.
Iswestja: Bisher hat Deutschland die Energiekrise recht gut gemeistert, was vor allem auf den warmen Winter zurückzuführen ist. Könnte sich die Situation in der nächsten Heizperiode dramatisch ändern?
Netschajew: Ich würde keine voreiligen Schlüsse über Erfolge ziehen. Ende August und Anfang September letzten Jahres, als die Lieferungen eingestellt wurden, erreichten die Gaspreise hier Rekordhöhen: über 350 € pro 1 MWh. Um Engpässe und Stromausfälle zu vermeiden, musste ein Notfallplan aufgestellt werden, und es wurde das Ziel gesetzt, den Gasverbrauch um 20 % zu senken, was die Unterbrechung der Lieferungen an eine Reihe von Industrieunternehmen zur Folge hatte. Es wurde eine aktive Kampagne unter den Bürgern durchgeführt, in der zu Einsparungen bei Wärme und Licht aufgerufen wurde.
Es darf nicht vergessen werden, dass zu diesem Zeitpunkt die unterirdischen Gasspeicher, die während der Heizperiode als Sicherheitspolster dienen, bereits weitgehend mit russischem Gas gefüllt waren. Die Hauptfrage ist, womit man es in Zukunft ersetzen kann und zu welchem Preis. Um sich von der russischen Abhängigkeit zu befreien, wurden in Deutschland drei LNG-Terminals gebaut, acht weitere sind in Planung.
Es gibt jedoch keine Pläne, die volle Kapazität von mehr als 73 Mrd. m³ LNG zu erreichen. Es wurden zwei Verträge über die Lieferung von 5 Mrd. m³ LNG pro Jahr unterzeichnet, die jedoch frühestens 2026 in Kraft treten werden. Darüber hinaus wird mit der Erholung der chinesischen Wirtschaft die LNG-Nachfrage in Asien steigen und damit auch der Preis. Unabhängig davon, wie sich die Dinge entwickeln, ist die Zeit der billigen russischen Energie in Deutschland also vorbei. Ist es ein Erfolg?
Iswestja: Die an den Nord Stream-Bombenanschlägen beteiligten Personen sind noch nicht benannt worden. Gleichzeitig erklärte Matthias Warnig, Geschäftsführer der Nord Stream AG, gegenüber der Zeit, dass ein NATO-Land hinter ihnen stehe. Setzt die Bundesrepublik Deutschland ihre Ermittlungen fort und verspricht Berlin, die Ergebnisse mit Russland zu teilen?
Netschajew: Die deutsche Staatsanwaltschaft berichtet, dass die Ermittlungen im Zusammenhang mit der Sabotage der Nord Stream-Pipeline noch andauern und sie es nicht eilig hat, ihre Ergebnisse zu veröffentlichen. Trotz unserer wiederholten Erinnerung hat Berlin nicht auf die schriftliche Bitte des russischen Ministerpräsidenten Michail Mischustin an Bundeskanzler Olaf Scholz vom 5. Oktober 2022 reagiert, russische Experten in die Ermittlungen einzubeziehen. Die Ersuchen der russischen Generalstaatsanwaltschaft an das deutsche Bundesjustizministerium vom 24. Oktober 2022 um Einrichtung einer gemeinsamen Ermittlungsgruppe und vom 1. November 2022 um Rechtshilfe bleiben unbeantwortet.
Iswestja: Vor nicht allzu langer Zeit erklärte der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer, dass es notwendig sei, die Voraussetzungen für die Instandsetzung der Nord Stream-Pipeline zu schaffen. Wird eine solche Möglichkeit auf Bundesebene diskutiert?
Netschajew: Es ist für jeden mit gesundem Menschenverstand offensichtlich, dass die Nord Stream-Pipeline eine stabile, zuverlässige Versorgung mit Erdgas zu vereinbarten Preisen darstellt, die dem Käufer einen Wettbewerbsvorteil verschafft. Aber der gesunde Menschenverstand ist hier im Moment nicht gefragt. Die politische Situation ist entscheidend. Und die Situation ist so, dass sich die Deutschen dringend von russischen Energieressourcen befreien müssen. Und das tun sie zu ihrem Nachteil.
Iswestja: Russland hat immer noch eine beeindruckende Anzahl deutscher Unternehmen. Hat dies dazu geführt, dass die handelspolitische Zusammenarbeit unserer Länder am wenigsten gelitten hat?
Netschajew: Wie Studien zeigen, hat sich die Mehrheit der deutschen Unternehmen dafür entschieden, trotz des beispiellosen Drucks seitens der deutschen Behörden und der deutschen Medien in der einen oder anderen Form auf dem russischen Markt präsent zu bleiben. Die Unternehmer sind sich bewusst, dass verlorenes Terrain auf dem russischen Markt schnell von Konkurrenten eingenommen werden wird. Ihre Aufgabe besteht also nicht darin, schnell zurückzukehren, sondern Russland nicht zu verlassen.
Iswestja: Wie wird sich der Handel zwischen Deutschland und Russland im Jahr 2022 im Vergleich zu 2021 verändern?
Netschajew: Nach vorläufigen Statistiken betrug der deutsch-russische Handelsumsatz im Jahr 2022 49,8 Milliarden Euro, was einem Rückgang von 16,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Die deutschen Exporte sanken aufgrund der Sanktionen auf 14,6 Mrd. € (minus 45 %). Dagegen stiegen die Einfuhren aus Russland auf 35,2 Mrd. € (plus 6,5 %), was vor allem auf einen Anstieg der Energiepreise zurückzuführen ist. Der Gesamttrend ist jedoch keineswegs ermutigend.
Iswestja: Was halten die deutschen Behörden von der Beschlagnahme russischer Vermögenswerte? Gibt es Anzeichen dafür, dass Deutschland diesen Schritt unternehmen wird?
Netschajew: Das Eigentum einer Reihe führender inländischer Energieunternehmen wurde in Deutschland bereits de facto beschlagnahmt. Es wurde eine "Jagd" auf das Eigentum und das Vermögen russischer Geschäftsleute auf den Sanktionslisten ausgerufen. Es werden Optionen für die Beschlagnahme eingefrorener russischer Staatsgelder zugunsten der Ukraine geprüft. Wenn es eine Debatte darüber gibt, dann nur darüber, wie man die Beschlagnahmepläne rechtlich rechtfertigt und ihnen eine plausible Form gibt. Aber unsere Kontrahenten sollten sich nicht täuschen lassen. Ein solcher Schritt wäre fatal für die Attraktivität des deutschen Standorts für ausländisches Kapital und würde auch unsere Vergeltung nach sich ziehen.
Iswestja: Am 20. Januar berichteten die Medien, dass die Berliner Staatsanwaltschaft eine Prüfung des Russischen Hauses der Wissenschaft und Kultur eingeleitet hat. Wissen Sie, wie sich die Situation entwickelt und wie die deutschen Behörden eine solche Entscheidung begründen?
Netschajew: Weder die Botschaft noch das Russische Haus selbst haben offizielle Mitteilungen der Berliner Staatsanwaltschaft über die Prüfung erhalten. Auf unsere Anfrage hin bestätigte das Auswärtige Amt in einer Mitteilung, dass das deutsch-russische Regierungsabkommen über den Betrieb von Kultur- und Informationszentren aus dem Jahr 2011 weiterhin in Kraft ist und die kulturellen Aktivitäten des Russischen Hauses nicht verboten sind.
Das Russische Haus ist also trotz gewisser Schwierigkeiten mit den Bankdienstleistungen für Besucher offen. Es werden Filmvorführungen, Russischkurse, Ausstellungen und verschiedene kulturelle Veranstaltungen organisiert. Es ist für uns nicht nachvollziehbar, wer von einem Abbruch der kulturellen und humanitären Bindungen zwischen unseren Völkern profitieren könnte. Aber die Situation ist so, dass wir auf jede Entwicklung vorbereitet sein müssen.
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